Spacious Passion

Kapitel 1 – Erwachen

Religion

Buddhismus ist eine pragmatische Religion. Der Nyingma Lama, Chhi’mèd Rig’dzin wurde einmal nach den Unterschieden zwischen den Weltreligionen befragt und die Antwort die er gab, war ungewöhnlich: humorvoll wie schlicht.

Er sagte: Hinduismus ist die Religion des Königs. Wenn Du etwas möchtest, gehst Du zum König und fragst. Christentum ist die Religion des Prinzen. Wenn Du etwas möchtest, gehst Du zum Prinzen anstatt direkt zum König, aber das Resultat ist das Gleiche. Islam ist die Religion des Botschafters. Wenn Du etwas möchtest, gehst Du zum Botschafter, anstatt zum König oder Prinzen, und wiederum – das Ergebnis ist das Gleiche. Buddhismus ist die Religion des Arbeiters. Wenn Du willst, dass etwas geschieht, machst Du es selbst.

Es war damals offensichtlich, dass Chhi’mèd Rig’dzin Rinpoche die Religionen, auf die er anspielte nicht bloß vereinfachend abkapseln wollte. Er wollte für ein spezifisches Publikum eine pragmatische Aussage machen. Er wollte sie wissen lassen, dass er nicht ihr Retter war und dass es ihrerseits erforderlich sei, im Hinblick auf die Natur seiner Belehrungen sorgfältig zu sein.

Ngak’chang Rinpoche, der mir diese Geschichte erzählte, führte sie folgendermaßen näher aus: Der Arbeiter sucht natürlicherweise Rat. Der Arbeiter kann sich auf Anleitung stützen. Der Arbeiter kann sich sogar höchst spezifischer Führung anvertrauen – aber letztendlich, muss er oder sie die Anweisungen ausführen, um den nicht-dualen Zustand zu verwirklichen.

Buddhismus hat eine dreifache Struktur im Hinblick auf Buddha, das was Buddha übermittelte, und jene, denen er es vermittelte. Der kommunikative Aspekt der dreifachen Unterteilung des Buddhismus ist Dharma1 und Dharma ist in hohem Maße pragmatisch. Es gibt nicht nur genaue Anleitungen dafür, wie wir selbst vorgehen sollen, sondern auch dafür, wie wir eine Beziehung mit einem Lehrer aufbauen, mit dem wir unsere Ergebnisse überprüfen können. Es gab nie einen guten Arbeiter, der nicht sein Handwerk lernen musste.

Dharma ist daher reich an facettenreichen Herangehensweisen und Methoden, die es einer breiten Vielfalt von Individuen zugänglich macht.

Manche Menschen sind der Meinung, dass Dharma keine Religion2 ist, sondern eher eine Philosophie oder eine ‘Art, das Leben zu meistern’ – und so mag es auf einer praktischen, funktionalen Ebene auch erscheinen. Dies jedoch ist grundlegend irreführend, wenn man sich mit den Grundsätzen und Methoden des Dharma näher beschäftigt.

Es ist wichtig, dass wir gleich zu Beginn unseres Interesses an Dharma unsere Begriffe genau bestimmen. Wenn wir dies versäumen, mögen wir nach ein paar Jahren entdecken, dass wir uns einer Religion gewidmet haben, obwohl wir ursprünglich davon ausgingen, es sei Philosophie oder Psychologie. Wir mögen uns durch eine solche Enthüllung betrogen fühlen und meinen, wir seien hereingelegt worden, fremde kulturelle und religiöse Formen anzunehmen.

Durch die Praxis der Philosophie mag man erwarten, zu seinem eigenen Schluss über die Natur des Seins zu kommen – doch solche Untersuchungen und Schlussfolgerungen wären größtenteils selbstreferentiell. Durch die Praxis der Religion des Dharma, entdeckt man, dass die Natur des Seins schon von den eigenen Lehrern verstanden wurde und dass man selbst sie durch die Praxismethoden entdecken kann, die sie einem aufzeigen. Daher müssen wir schließlich, um uns ganz dem Dharma zu widmen, die Begrenzungen unserer eigenen Sicht loslassen – und springen… ohne Vorbehalt, hinein in die Sicht des Dharma.

Wenn wir eine Philosophie wählen, dann sind wir stets größer als die Philosophie. Wir können deren Parameter anpassen, wenn es unbequem wird. Wir können uns aus allem heraus winden, was nicht unseren Wünschen entspricht. Eine Religion hingegen ist immer größer als wir selbst. Eine Religion hat eine Struktur und klare Parameter, die nicht ignoriert werden können, sobald sie nicht unserer Bequemlichkeit entsprechen. Wir müssen uns erlauben, in der viel weiteren Sicht einer Religion auf zugehen. Wir müssen sie vollständig annehmen, um ganz von ihr angenommen zu werden. Im Gegenzug bietet uns Religion große Unterstützung und Struktur für unser Leben.

Religionen bieten Moral, die nicht nach unserem individuellen Nutzen kompromittiert werden kann. Die Religion eines Landes bietet seinen Menschen einen Lebensstil und einen existentiellen Geschmack. Das Jahr dreht sich um den Kalender der Religion, Zeiten des Feierns und Zeiten des Betens, Zeiten für Feste und Zeiten für Besinnung festlegend. Wesentliche Schnittstellen des Lebens mögen von der Religion gefeiert werden, so wie der Wechsel ins Erwachsenenalter oder die Hochzeit. Schwere Lebensumstände, wie der Tod eines lieben Menschen geschehen innerhalb der Weisheits-Grundlage eines religiösen Rituals, in dessen Zusammenhang man angeleitet wird, eine solche Erfahrung auf heilsame Weise zu integrieren.

In manchen Fällen und zu manchen Zeiten mögen die Strukturen einer Religion als begrenzend und klaustrophobisch empfunden werden, die Menschen – besonders die Jungen – dazu veranlassen, sie abzulehnen. Die unterstützende Qualität einer Religion hingegen, mag erst später im Leben geschätzt werden. In England strukturieren viele Menschen, die sich selbst nicht als Christen bezeichnen würden, noch immer ihr Leben um den christlichen Kalender herum, freuen sich auf Familienzusammenkünfte zu Ostern und an Weihnachten. Sie mögen auch entdecken, dass sie sich in Zeiten der Sorge und Not instinktiv dem Trost der Religion zuwenden.

Ngak’chang Rinpoche sagt dazu: Es ist traurig, wenn Menschen den Trost einer Religion mit dem Argument ablehnen, dass Trost eine Beruhigungspille sei. Trost ist tatsächlich eine Beruhigungspille – aber mir ist noch kein Mensch begegnet, der nicht zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem Leben eine Beruhigungspille gebraucht hätte. Es ist dumm anzunehmen, dass bloß weil man einen Verstand hat, mit dem man eine Beruhigungspille definieren kann, man nie einen Nutzen aus ihrer Verfügbarkeit ziehen könnte. Jede Religion beinhaltet Unterstützung und Herausforderung und die meisten Menschen brauchen beides.

2001 war ich mit meinem Mann Ngakpa ’ö-Dzin Tridral Dorje nach Malta eingeladen, um dort zu unterrichten. Malta ist ein vorwiegend katholisches Land. Die Ausübung des Katholizismus ist dort extrem sichtbar. Viele Häuser haben in der Nähe ihrer Haustüren religiöse Ikonen. öffentliche Busse haben Schreine auf ihren Armaturenbrettern. In den Kirchen, die wir besichtigten, fanden wir stets Gruppen von Menschen vor, die aktiv praktizierten – mit dem leise, brummenden Klang von Gebeten die Perlen ihres Rosenkranzes bewegten. Wir haben die Sichtbarkeit von Maltas religiöser Kultur sehr geschätzt – die Maltesische Gesellschaft ist vollständig von ihr durchtränkt. Wir würdigten die Unterstützung und Struktur, die der Katholizismus den Maltesen bietet. Auf Malta ist es völlig akzeptabel, wenn man seine Religion offen und andächtig praktiziert. Wir waren uns auch der Probleme von Vorurteilen bewusst, die jene buddhistischen Praktizierenden erlebten, die uns eingeladen hatten zu unterrichten. Aber diese Probleme machen nicht den Wert des Katholizismus an sich zunichte. Wo immer es Menschen gibt, wird es Probleme geben. Es ist menschliche Interpretation einer Religion, die Begrenzungen und Vorurteile erschafft, nicht grundlegendes Prinzip und Funktion der Religion selbst.

Manche Menschen glauben, dass sie Religionen einzelne Aspekte entnehmen und deren Philosophie und Praktiken übernehmen können, ohne irgendeine Religion als Ganzes anzunehmen. Dies räumt abermals dem Philosophen die Kontrolle ein—die entscheidende Position—die Reichweite der Philosophie beherrschend.

Sie entscheiden, was sie sich zu eigen machen und was sie fallen lassen. Ein religiös Praktizierender hat immer die Unterstützung der anderen Praktizierenden und die Struktur der Religion, selbst wenn er gegen deren Begrenzungen rebelliert. Der Philosoph ist immer alleine, ohne Unterstützung, denn jeder Philosoph wird sich eklektisch die Aspekte einer Religion herausziehen, die er oder sie für wertvoll hält. Sie mögen manche Praktiken als kulturell ablehnen und andere als pragmatisch annehmen.

Sie haben auch die Wahl, Aspekte fallen zu lassen, die unbequem werden. Aber nur ein religiöser Lehrer, der ganz in die Methoden einer Religion eingetaucht und in ihnen erfahren ist, hat die Fähigkeit, äußere Erscheinungsformen der Religion anzupassen, ohne die Religion in ihrem Ablauf zu verfälschen.

Um zu verstehen, was in einer Religion kulturell und was essentiell ist, muss man vollkommener Meister Ihrer Praktiken und Sichtweise sein – wie Khandro Déchen erläutert. Es bedarf eines Buddhas, um den Buddhismus neu zu erschaffen oder umzudefinieren. Padmasambhava definierte Vajrayana und sofern nicht jemand über gleiche Qualifikationen verfügt, wäre es als wolle ein fünf jähriges Kind versuchen, einen Fernseher auseinander zu nehmen und wieder zusammen zu setzen. Das Ergebnis könnte etwas unpassend sein.

In diesem Kontext ist es nicht notwendig Tibeter zu sein, um Nyingma Vajrayana Buddhismus3 zu praktizieren. Prinzip und Funktion des Vajrayana führen über die Kultur hinaus. übersehen zu können, was im Vajrayana die Essenz der Methode4 ist und was das Aroma der tibetischen Kultur, erfordert Verwirklichung durch Methode. Die Perspektive, die eine solche Verwirklichung verschafft, kann nur von einem Lama5 offeriert werden.

 

1. Das Wort 'Buddhismus' ist weder eine übersetzung des Sanskrit Wortes ‘Dharma’ noch des tibetischen Wortes ‘chö’. Das Sanskrit Wörterbuch von M Monier-Williams übersetzt Dharma als ‘das, was begründet oder fest ist; Gesetz; Praxis; Religion; das Gesetz oder die Lehre des Buddhismus; Regeln des Buddhismus; wesentliches Dharma – Sutra genannt.’ ‘Chö’ wird übersetzt als: ‘alle Phänomene, jegliche Substanz und alles Wissen über weltliche und spirituelle Dinge’ im Tibetischem Wörterbuch von Chandra Das. Die übersetzung ‘wie es ist’, die im Allgemeinen benutzt wird, kann verstanden werden im Sinne von ‘Die Eigenschaft von Feuer auf zu steigen und Wasser abwärts zu fließen.’ Das Wort ‘Buddhismus’ ist abgeleitet von der Assoziation der Religion mit dem historischen Buddha Shakyamuni. Jedoch unterscheidet sich der Zen Buddhismus wesentlich vom Theravada, was sich wiederum vom Dharma unterscheidet, den man in Tibet, Nepal und Bhutan vorfindet. Es ist daher treffender in diesem Text das Wort Dharma anstelle des Wortes Buddhismus zu verwenden.

2 ‘Religion’ wird von Chambers Twentieth Century Dictionary (1972) definiert als: ‘Glaube an, Anerkennung als, oder eine erwachte Wahrnehmung einer höheren unsichtbaren beherrschenden Macht oder Mächte, mit den entsprechenden Emotionen und Moralvorstellungen; Riten und Gebete; jedes Glaubenssystem oder Anbetung; hingebungsvolle Treue.’ ‘Philosophie’ ist angegeben als: ‘Streben nach Weisheit und Wissen: Erforschung der Natur des Seins; Wissen über die Ursachen und Gesetzmäßigkeiten aller Dinge; die Prinzipien, die jedem Wissenszweig zugrunde liegen; Beweisführung: ein spezielles philosophisches System.’ Man könnte sagen, dass die Begründer des buddhistischen Systems Philosophen waren, da sie Weisheit und Wissen gesucht haben und die Natur des Seins erforscht haben. Jene von uns hingegen, die jetzt den Methoden des Buddhismus folgen, handeln aus Glauben an eine erwachte Wahrnehmung eines höheren unsichtbaren Potentials; wir beteiligen uns an Riten und offerieren hingebungsvolle Treue. Ergo ist Buddhismus eine Religion.

3. Es gibt in Tibet vier buddhistische Schulen: Nyingma, Kagyüd, Sakya und Gélug. Nyingma ist die älteste der Schulen. Sie geht auf die Zeit vor der Wiedereinführung des Buddhismus in Tibet zurück. Dieser war von Langdarma (dem abtrünnigen König von Tibet) im 9. Jahrhundert verfolgt worden. Vajrayana (Sanskrit), der Diamant Pfad, der Pfad der Transformation, ist ein Zweig des Buddhismus, der Mantra und Visualisation benutzt und große Betonung auf die Rolle des Lehrers legt. Vajrayana ist die Praxis, die auf den tantrischen Belehrungen von Padmasambhava beruht.

4. Methode: Thab (thabs) (Tibetisch), upaya (Sanskrit).

5. Lama (bLa ma) (Tibetisch): der Titel wird für erfahrene und gelehrte Lehrer des Buddhismus in Tibet verwendet, die durch Studium, Praxis und Hingabe zu ihren eigenen Lehrern und Linie dazu in der Lage sind, Dharma zu unterrichten und zu übertragen.